Kompetenzzentrum Großsiedlungen veröffentlicht Studie: "Berliner Großsiedlungen am Scheideweg?"

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„Berliner Großsiedlungen am Scheideweg?“ - Eine aktuelle Studie des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e. V. warnt vor überforderten Nachbarschaften. Rund ein Viertel der Berliner Bevölkerung lebt in den industriell errichteten großen Wohnsiedlungen der 1960er bis 1980er Jahre. Ihre Bedeutung für die gesamte Stadt und deren sozialer Zusammenhalt wird oft unterschätzt. „Um mehr Aufmerksamkeit für das Zusammenleben von über 800.000 Menschen zu wecken, legen wir eine empirisch belegte Gesamteinschätzung über die soziale Situation in 50 Berliner Großsiedlungen vor, und die Ergebnisse machen sehr nachdenklich“, sagt Bernd Hunger, Vorstandsvorsitzender des Kompetenzzentrums Großsiedlungen.

Bisher haben behutsame Bestandserneuerung und soziale Betreuung gepaart mit sensibler Belegungspolitik bewirkt, dass die Mehrzahl der großen Wohnsiedlungen in einem baulich guten Zustand ist und der soziale Frieden in den Nachbarschaften gewahrt blieb. Inzwischen sind die Veränderungen in der Bewohnerstruktur so gravierend, dass sie zur Überforderung der Nachbarschaften führen können.
So sind u. a. die Anteile von Haushalten mit Transferbezug und von in Armut lebenden Kindern in den Großsiedlungen doppelt so hoch wie in anderen Quartieren, und sie sind größer geworden. Die Dynamik der Zuwanderung seit 2015 hat die Integrationserfordernisse in erheblichem Maße verstärkt. Das Tempo des Wandels weist darauf hin, dass nicht nur benachteiligte Quartiere weiterhin Unterstützung brauchen, sondern auch die Nachbarschaften in stabilen Siedlungen mit präventiven Maßnahmen gestützt werden müssen.
Anhand des in dieser Form erstmals zusammengestellten Datenmaterials macht die Studie deutlich: Die großen Quartiere schultern soziale Leistungen für den Rest der Stadt, die infolge der Anspannung auf dem Wohnungsmarkt zugenommen haben. „Sie entlasten damit andere Quartiere und brauchen mehr Aufmerksamkeit anstelle der zuweilen immer noch anzutreffenden Stigmatisierung in der öffentlichen Meinung,“ so Bernd Hunger.
Die Corona-Pandemie wirkt als Katalysator sozialer Probleme. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und in unteren Einkommensgruppen sind in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit bedroht, falls die Folgen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt durchschlagen.
Zur Stabilisierung der Nachbarschaften verweist die Studie auf die entscheidene Bedeutung der Belegungspolitik. Zwar ist es politischer Konsens, sozial gemischte Quartiere anzustreben, in denen besonders bedürftige Haushalte mit breiten Schichten der Bevölkerung nachbarschaftlich zusammenleben. Die politisch beeinflussten Regelungen zur Wohnraumvergabe durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen bewirken hingegen ungewollt, dass breite Schichten immer weniger erreicht werden. Der Grund dafür ist, dass die Einkommensentwicklung den Kreis der Haushalte verkleinert, die einen Wohnungsberechtigungsschein (WBS) erhalten können. Während diese Gruppe in früheren Jahren einen erheblichen Anteil von berufstätigen Haushalten mit geringen bismittleren Einkommen aufwies, wächst der Anteil von  Haushalten, die von Transfereinkommen leben. Dieser Prozess kumuliert sich, da die politisch vorgegebenen Belegungsquoten jährlich neu erfüllt werden müssen. Dadurch werden nicht nur jene Quartiere weiter belastet, die ohnehin schon besondere Integrationsleistungen erbringen, sondern zunehmend auch Bestände der landeseigenen Wohnungsunternehmen in den Großsiedlungen mit sozial gemischten Nachbarschaften.
Benachteiligt bei der Wohnungssuche sind Berufstätige, die dringend bezahlbaren Wohnraum suchen, aber selbst mit relativ schmalen Einkommen die Grenze der Förderberechtigung oftmals knapp überschreiten. Durch die Vergrößerung des Kreises WBS-berechtigter Haushalte könnte zu einer ausgewogeneren Balance zwischen der Wohnraumversorgung breiter Schichten und besonders bedürftigen Haushalten zurückgekehrt werden.
Grundanliegen einer sensiblen Belegungspolitik muss es sein, auf die Belastbarkeit der vorhandenen Quartiere zu achten. Die Studie empfiehlt deshalb gewisse Spielräume bei der Wohnraumvergabe, die das kleinteilige Eingehen auf die konkreten sozialen Anforderungen ermöglichen – bis hin zu Obergrenzen für jene Quartiere, in denen die Nachbarschaften offenkundig überfordert sind oder werden.
Mit Blick auf die wohnungswirtschaftlichen Kennzahlen ist es aus Sicht der Studie absehbar, dass die landeseigenen Wohnungsunternehmen infolge der zunehmenden Anforderungen durch Wohnungsneubau, Bestandserneuerung und Klimawandel an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stoßen. Das kann nicht im Interesse der Menschen in den Großsiedlungen sein, die gutes und sicheres Wohnen in gepflegten Beständen erwarten. Eine Verbesserung der Ertragsseite durch moderate, an der Zahlungsfähigkeit der Miethaushalte orientierte Spielräume bei den Mieten würde es ermöglichen, die politischen Ziele Berlins bei der sozialen Wohnraumversorgung zu erfüllen, die Bewohnerschaft nicht zu überfordern und mehr Flexibilität für anspruchsvolles Bauen und Bewirtschaften zurückzugewinnen.
Diese für Berlin untersuchte Entwicklung gilt auch bereits in anderen deutschen Großstädten. Insofern handelt es sich um ein bundesweites Phänomen, das von den politisch Verantwortlichen nicht weiter ignoriert werden darf.
Download: www.gross-siedlungen.de

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 Silke Schendel
Silke
Schendel
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